Ich habe in den letzten Jahren sehr viel Erfahrung mit unterschiedlichen Führungsstilen machen dürfen: in großen Weltkonzernen bis hin zu kleinen Modeagenturen. Auch meine Masterthesis habe ich zum Thema Leadership, explizit zum Thema zeitgemäße Führung: Collective Leadership, verfasst. Die nachfolgenden Insights aus unterschiedlichsten Quellen der modernen Wissenschaft, wollte ich euch nicht vorenthalten und deshalb einen seperaten Beitrag dazu erstellt.
Das Selbstverständnis von Führungskräften und die Ausprägung derer Stile hat sich über die vergangenen Jahrzehnte in Deutschland massiv verändert. Waren in den 1950er bis 1960er Jahren noch autokratische „Überväter“ an den Schlüsselpositionen von Unternehmen zu finden, so sorgte unter anderem eine zunehmende Globalisierung und damit einhergehend ein Anstieg an Komplexität dazu, dass nicht mehr eine Person alleine beanspruchen konnte, den vollkommenen Überblick zu haben und somit den Kurs einer Firma zu bestimmen. Führung wurde kooperativer und schießlich um die Jahrtausendwende durch den Begriff von „Leadership“ neu definiert. Der Fokus der Führungsforschung verschob sich hin zu den Unterschieden von Managern und Leadern. Während Management als Notwendigkeit bezeichnet wird, die erlernt werden kann, so wird über Leadership gesagt, dass dies eine Kunstform ist, die im Wettbewerb den Unterschied macht.
Auch Leadership selbst ist kein klar definierbares, statisches Gebiet. Vielmehr handelt es sich um ein dynamisches Feld der Führungsforschung, welches in den letzten Jahren von Ausprägungen wie Distance Leadership, E-Leadership, Diversity-Leadership oder auch Collective Leadership, dem Herzstück des Blogposts, bestimmt war. Zahlreiche Studien zu Collective Leadership, wie die zuvor benannten, haben zum Ergebnis, dass diese Art der Führung bzw. dieses Führungsverständnis signifikante, vorteilhafte Auswirkungen sowohl auf Team- als auch auf Organisationsprozesse hat. Genauer gesagt wird eine effizientere Nutzung von Expertise begünstigt und zeitgleich eine effektivere Anwendung von Leadership ermöglicht, indem Aspekte bzw. Elemente von Führungsaufgaben an den- bzw. diejenige distribuiert werden, der bzw. die am besten für die gerade anstehende Aufgabe geeignet ist. Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen hochgradig komplexen Prozess, der von zahlreichen Faktoren beeinflusst werden kann und beispielsweise folgendermaßen definiert ist: Collective Leadership ist ein Prozess der Einflussnahme, in welchem mehrere Mitglieder einer Organisation gleichzeitig Führungsaufgaben ausüben.
Ich habe unterschiedlichste Modelle von Collective Leadership beleuchtet und ein Modell fand ich für mich persönlich besonders schlüssig. Deshalb würde ich euch gerne das Modell von PresenceAtWork vorstellen.
Ausgangsbasis für das Modell von PresenceAtWork ist die „VUKA“-Welt, welche in dieser Arbeit ausführlich beschrieben wurde. Diese Welt, geprägt von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität sowie Ambiguität hat zur Folge, dass es für einzelne Personen nicht mehr möglich ist, alles zu wissen und zu entscheiden. Autokratische Alleinentscheider, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren gewaltet haben, sind Fehl am Platz. Fluten an Informationen sowie eine rasante Veränderungsgeschwindigkeit führen dazu, dass komplexe Herausforderungen entstehen, die nur noch im Netzwerk bzw. im Kollektiv zu lösen sind. Hinzukommt, dass das Ausmaß an möglichen Ablenkungsfaktoren und Störquellen stetig zunimmt. Eine Führungskraft muss daher besonnen bleiben können, selbstbewusst und sich seiner selbst bewusst sein. Ferner fußt das Modell von PresenceAtWork auf dem Unterschied von traditioneller Führung, die individuell erfolgte und der Führung im Kollektiv. Probleme konnten in Zeiten vor der „VUKA“-Welt allein definiert und gelöst werden. In Zeiten von Collective Leadership ist dies jedoch nicht mehr möglich und Kollaboration ist zwingend von Nöten. Folglich müssen starre Strukturen aufgebrochen und der „Command-and-control“-Stil verworfen werden. Vielmehr sollte Flexibilität herrschen sowie Entscheidungen gemeinsam diskutiert werden.
Anbei findet ihr die 3 Grundprinzipien von Collective Leadership (gelb soll Collective Leadership repräsentieren).
Das erste Prinzip trägt den Titel „das Sein in Leadership“ (The being side of leadership). Hierunter wird verstanden, dass Leader sich ihrer selbst bewusst und stets präsent sein sollen. Der Faktor der Präsenz wird wiederum in fünf Elementen definiert. Erstens soll die volle Aufmerksamkeit sowie der Fokus dem Hier und Jetzt gelten. Zweitens sollte man stets bewusst Herausforderungen bearbeiten und zwar jede für sich allein. In anderen Worten soll eine kognitive Überfrachtung vermieden werden. Präsent zu sein bedeutet darüberhinaus, dass die Aufmerksamkeit der Sache dient, die gerade wichtig ist bzw. die gerade den Fokus erfordert. Viertens sollte die Führungskraft die Gefühle, Gedanken und Eindrücke anderer respektieren sowie für die Sache nutzen. Abschließend wird präsent zu sein damit beschrieben, nicht abwesend, unaufmerksam, abgelenkt oder zerstreut zu sein. Dieser Definition von Präsenz folgt, dass man auf drei unterschiedlichen Ebenen präsent sein kann: sich selbst gegenüber (PresentSelf-Awareness), anderen gegenüber (Present Other-Awareness) sowie dem ganzen System gegenüber (Present System-Awareness).
Hier setzt auch die Argumentation an, dass Führungskräfte Entwicklung in sowohl horizontaler, als auch vertikaler Richtung nehmen sollten. Unter horizontaler Entwicklung ist dabei der Ausbau von Fachwissen, Fähigkeiten, die dem Job direkt zuzuordnen sind sowie fachliche Kompetenz gemeint. Vertikale Entwicklung hingegen bezieht sich auf die Erweiterung im Denken eines Individuums. Mit anderen Worten mit der Erweiterung des Horizonts in ehemals klar definierten Bereichen. Die Art und Weise wie gedacht wird, wird hierbei verändert, um komplexen Situationen mit zahlreichen Einflussfaktoren besser begegnen zu können. In einem Satz beschrieben, kann die horizontale Entwicklung als die Veränderung des Know-hows eines Leaders definiert werden und die vertikale Entwicklung als die Veränderung des Leaders selbst. Beide Arten der Entwicklung und Weiterentwicklung sind essentiell, um den Herausforderungen der „VUKA“-Welt zu begegnen. Zudem sind beide Entwicklungsarten die Basis für das zweite Prinzip von Collective Leadership gemäß PresenceAtWork.
Das zweite Prinzip beschreibt eine Führung aus der Perspektive des Ganzen, im Vergleich zur Führung von der Spitze (Leading from a systems perspective). Top-Down Führung mit Untergebenen, die zuarbeiten wird nicht als adäquates Mittel gesehen, das in einer „VUKA“-Welt von Nutzen ist. Vielmehr sollen Leader die Kraft der kollektiven Intelligenz nutzen und dabei soll sich die Führungskraft in das große Ganze integrieren beziehungsweise einfügen, um so als Wegbereiter und Sparringspartner zur Verfügung zu stehen. Im Kontext diesen zweiten Prinzips gelten untergeordnete Prinzipien, die auf das System im Allgemeinen bezogen sind. So ist jeder Teil von etwas Größerem (d.h. dem System). Jedes Element kann Einfluss nehmen und beeinflusst werden. Jeder Teilnehmer des Systems kann Einfluss nehmen und beeinflusst werden. Zudem sind alle gemeinsam dafür verantwortlich, was geschaffen wird. Führungskräfte, die Collective Leadership praktizieren, wissen um die Dynamik innerhalb eines Systems und wie sie als Teil dessen, mehrwertbringend agieren. Sie nutzen die kollektive Intelligenz und die Stärken, die sich aus dem Wissen unterschiedlichster Einzelpersonen ergeben. In Summe wissen sie, wie bzw. wann man im System folgen und wie bzw. wann man führen muss. PresenceAtWork spricht darüberhinaus von der Interaktion mit einer sogenannten dritten Einheit (third entity). Diese wird definiert als ein energetisches Feld, das durch Menschen in verbundener Interaktion entsteht. Die dritte Einheit ist das, was das Team gemeinsam erschafft. Sie ist eine lebendige Einheit mit eigener Stimme, die vom Collective Leader gehört wird. Die dritte Einheit wird als unsichtbare Essenz der Beziehung der einzelnen Teammitglieder zueinander sowie zur Führungskraft beschrieben. Folglich muss einer Führungskraft im Rahmen von Collective Leadership bewusst sein, wie man sich in ein System integriert, wie ein solches System lebt und atmet und wie man ein solches System nutzen kann, um den Herausforderungen der „VUKA“-Welt zu begegnen.
Das dritte und letzte Prinzip zu Collective Leadership nach PresenceAtWork handelt von der Führung basierend auf der entstehenden Zukunft (leading from the emerging future). Ausgangspunkt für dieses Prinzip sind fundamentale Probleme, die im beruflichen Leben vorzufinden sind. Hierzu zählt das starre Festhalten an einer definierten Strategie, organisationale Komplexität, welche zu Silodenken und Abschottung einzelner Bereiche führt aber auch die extrinsische Motivation, die vom Profitgedanken dominiert wird. Des Weiteren ist die Angst etwas zu riskieren weit verbreitet. Ebenso die Einstellung, dass man wisse, was der Kunde braucht ohne mit diesem zu sprechen.
Wie in oben dargestellter Abbildung zu entnehmen, ist von der langfristigen, starren Planung, die keinerlei Flexibilität ermöglicht, abzuraten. Denn wie ein Artikel in der Havard Business Review bereits im Jahr 2008 belegt, neigen zu viele Unternehmen dazu, Strategie als Lösungsbündel zu verstehen, welches über einen längeren Zeitraum definiert wird und damit Ruhe erzielt und Richtung vorgibt. Ist eine Strategie erst einmal ausgearbeitet, folgt die Umsetzung und die Rechtfertigung für diese rein analytische Entscheidung. Vielmehr sollte eine Strategie jedoch auf einem organischen, adaptiven Prozess beruhen, der niemals abgeschlossen ist. Dies folgt der Begründung, dass sich beispielsweise die externe Unternehmensumwelt stetig verändert und somit die Anpassung einer Strategie flexibel mit erfolgen sollte. Für viele ist eine derartige Denkweise ungewohnt, da Managementausbildungen aber auch die Entwicklung von Führungskräften Jahrzehnte lang die vorausschauende, absichernde Funktion von Strategie lehrte. Um ein Umdenken zu erreichen verweist PresenceAtWork auf die sogenannte „Theorie U“ von Otto Scharmer, einem Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Die Hauptaussage dieser Theorie ist, dass man von auftuenden Möglichkeiten lernen sollte und nicht von Vergangenem. Otto Scharmer nennt diese Methodik „Presencing“, ein Kunstwort bestehend aus den englischen Begriffen sensing (spüren, fühlen) sowie presence (Gegenwart). Der MIT-Professor definiert „Presencing“ wie folgt: „(…) presencing means ´sensing and actualizing one’s highest future possibility – acting from the presence of what is wanting to emerge“. Es geht folglich darum, sich möglichen Entwicklungen und Veränderungen hin zu öffnen und diese für die Erreichung positiver Ergebnisse zu nutzen. Die nachfolgenden sieben Schritte bilden das Herzstück der Theorie U.
Die noch sehr junge Theorie U verlangt sicherlich noch nach kritischer Überprüfung durch die wissenschaftliche Gemeinde, dient jedoch als Methodik, um alte Denkweisen aufzubrechen und sich den Veränderungen durch die „VUKA“-Welt zu stellen.
Beachtet eine Führungskraft die drei genannten Prinzipien, so erlangt diese Kompetenzen in fünf Bereichen. Erstens wird die Art und Weise der Führung ausgeglichener sein. Zweitens wird sich die Führungskraft ihrer selbst bewusster sein. Drittens verkörpert der Leader Authentizität. Die vierte Kompetenz bezieht sich auf die Interaktion in Netzwerken und deren geschickte Nutzung. Als abschließende Kompetenz wird das kollektive Führen genannt, dass für Co-Kreation sowie Führen und Folgen steht. In zwei Worten beschrieben erlangt eine Führungskraft, die Collective Leadership praktiziert, eine systemische Perspektive. Dies wird als adäquates Mittel beschrieben, um in einer hoch komplexen und dynamischen Welt erfolgreich und nachhaltig zu agieren.